Zeitzeugenbefragung von Schülern der RDS

Im Mai 2015 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkrieges zum 70. Mal. Aus diesem Anlass haben sich Schüler und Schülerinnen dieses Themas angenommen. Sie haben Materialien aus dieser Zeit „Westerstede nach 1945“ bearbeitet und Zeitzeugen befragt.


Zeitzeugenbefragungen – also das Interview mit Menschen, die einen geschichtlichen Kontext selbst erlebt haben – sind im Geschichtsunterricht beliebt, um Schülerinnen und Schülern die Vergangenheit nahe zu bringen. Deshalb glauben die Schülerinnen und Schülern manchmal den Zeitzeugen mehr als den Schulbüchern oder schriftlichen Quellen, denn der Zeitzeuge „war dabei“. Die Doppelgesichtigkeit des Zeitzeugen, der gleichzeitig Quelle und Darstellung ist, macht ihn für den Geschichtsunterricht spannend, aber auch risikoreich. Eine Auswahl dieser Arbeiten haben wir für den Niedersachsentag vorbereitet und sehr gerne für eine Ausstellung zur Verfügung gestellt.

Alle Schüler und Schülerinnen der Robert Dannemann Oberschule haben über das Thema „Westerstede in den Jahren 1945/46“ freiwillig geforscht und recherchiert. Sie haben sich Bücher aus dem Stadtarchiv und aus Bibliotheken besorgt, um über das Thema Grundlagen zu erhalten. Sie haben sich darüber hinaus Zeitzeugen gesucht, um mit diesen über Erlebnisse aus dem Krieg und aus der Heimat zu sprechen.

Zeitzeugenbefragungen verlangen von den Schüler und Schülerinnen ein erhebliches Maß an Selbstständigkeit. Sie müssen mehrere Arbeitsschritte planen und durchführen. Es muss ein Interviewleitfaden erstellt, ein längeres Gespräch geplant, das Gespräch transkribiert und ausgewertet, eine Präsentation vorbereitet und umgesetzt werden.


Die Ergebnisse sind auf den Stellwänden zu sehen:

Aus der Realschulklasse 8 haben Stina Hobbensiefken und Kim Bergemann über den Bau des Lazaretts in Westerstede geforscht. Sie haben ein Interview mit dem Großvater von Stina, Hans Hobbensiefken, geführt und von diesem Material über den Aufbau des Lazaretts bekommen. Daneben beschäftigte sie sich mit den Kriegserlebnissen von Otto Ehlers, der 21jährig das Kriegsende erlebte. „Westerstede hatte Glück, dass sich 1500 Verwundete dort aufhielten. Sie wären ansonsten sicherlich angegriffen worden. Dies mit vielen Kriegstoten und Zerstörung von Häusern.“


Eine andere Schülerin aus der 8. Klasse, Nadine Baumeyer, hat sich mit den Aufzeichnungen von Marian Scheelkas befasst. Sie wurde 1927 geboren und hat als 12jährige den 2. Weltkrieg erlebt. Sie schildert das Leben ihrer Familie in Westerstede. Sie beschreibt dieses Leben im Krieg als leidvoll, „als Zeit des Hungers, mit Tod und Zerstörung, das sich erst mit der Währungsreform 1949 änderte.  Sie konnte niemals richtig schlafen, da der Krieg immer ihr Leben bedrohte.“


Die Schülerinnen Benita Weber, Sarah Alberdiers und Lea Heuer haben Marga Fittje als Zeitzeugin befragt. Frau Fittje war 1945 fünfzehn Jahre alt und hat mit drei Generationen außerhalb von Westerstede auf einem Bauernhof gelebt. Sie erzählte von einer naturverbundenen Kindheit, in der  der Krieg nur eine geringe Bedeutung hatte.


Die Schüler und Schülerinnen der Realschulklasse 9c haben sich intensiv mit Zeitzeugen befasst. Sina Sandstede und Aylin Opel haben Hans, geb. 1926, (der anonym bleiben möchte) befragt. Dieser schilderte, dass er an mehreren Orten den Krieg erleiden musste. Er wurde verwundet und musste flüchten. Bei diesem Gespräch mit Hans dominierten Gefühle wie Angst, Trauer und Hilflosigkeit. Aber auch Hass und Schuld. Die Schülerinnen erlebten ein sehr gefühlvolles Interview und waren „froh, nicht in dieses Zeit gelebt zu haben.“


Katharina Rogge und Svenja Gertjejanßen haben die Großmutter Wilma Janßen, geb. 1934 in Apen, befragt. Wilma Rogge erlebte den Krieg im Ammerland und erinnert sich gut an den Fliegeralarm und den Beschuss eines Zuges mit vielen Toten und Verletzten. Das Kriegsende hat sie in Westerstede erlebt. Es war gekennzeichnet durch Hunger, Kälte und Trauer. Schlimm war die Kinderarbeit. Sie musste schon früh mithelfen, die Familie unterstützen. Sie war dann froh, in die Schule gehen zu können.


Lucas Drude und Leon Kropp haben die 89jährige Anna Kirsch interviewt. Sie kam im März 45 aus Pommern nach Ocholt. Frau Kirsch berichtet über den Beschuss durch Tiefflieger. Sie musste sich dann immer in die Gräben flüchten, um nicht getroffen zu werden. Aus Pommern zunächst in Edewecht angekommen, wollte man sie nicht als Flüchtlinge aufnehmen. Erst die Familie Frerichs gab den Flüchtlingen wieder Hoffnung. Für die beiden Schüler ist die Vorstellung schwierig, jederzeit vom Tod bedroht zu werden. Mit einem Mitarbeiter des „Westersteders Archivs“ haben sie einen Artikel des „Ammerländer Anzeigers“ vom 30. November 1945 analysiert. In diesem Artikel steht ein Aufruf, sich in aller Not gegenseitig zu helfen. Es wurde aufgerufen zu spenden, um neues Leben aufzubauen.


Frau Sander wurde von Jessica Quathamer und Christina Bruns befragt. Sie wohnt in Westerstede und ist 92 Jahre alt. Das Kriegsende hat sie als 22jährige erlebt. Sie war Soldatin und hat einige Kameradinnen durch Tiefflieger im Krieg verloren. Sie hat 1945 ihre Waffen abgegeben und in der Landwirtschaft nahe Hamburg gearbeitet. Im Herbst 45 kam sie dann aus der Gefangenschaft zurück nach Westerstede, wo sie von ihrer Familie erwartet wurde. Das Gespräch mit Frau Sander war offen und ehrlich. Sie hat in ihrem langen Leben viele Stationen erlebt, da ihr Beruf als Buchbinderin nicht anerkannt wurde.


Lennard Eilers beschreibt die Flucht seiner Bekannten aus Tilsit in Ostpreußen nach Ostfriesland. Sie ist als 14jährige mit ihrer Familien in einem Pferdewagen in einem Flüchtlingstreck nach Westen gefahren. Ihre Familie wurde auseinandergerissen. Sie lebte eine kurze Zeit in Berlin und wurde, kurz vor der Einnahme durch die russische Truppen, mit anderen jungen Mädchen in den Westen geschickt. Dafür wurde sie als Junge verkleidet. Erst  vor 12 Jahren hat sie dann über das Internet ihre Verwandten wiedergefunden. Lennard brauchte nur wenig zu fragen. Es schien, als ob der Gesprächsfluss der Interviewten eine eigene Dynamik entwickelte. Im Gespräch konnte man eine tiefe Ergriffenheit spüren. Er selbst möchte eine solch schwere Zeit niemals erleben.


Lukas Gerdes und Jonas Schmitz haben die Flucht der Familie Baranski aus Ostpreußen über Dänemark nach Ihorst bearbeitet. Die Familie musste auf Anraten von deutschen Soldaten aus Ostpreußen flüchten. Sie waren mehrere Monate zu Fuß bei Temperaturen unter 30 Grad Kälte unterwegs. Mit neun Personen hatten sie Glück, zusammenbleiben zu können. Es ging mit dem Schiff nach Dänemark, wo sie nicht willkommen waren. Mithilfe des Roten Kreuzes wurden dann Verwandte in Deutschland gefunden und die Ausreise geplant. Die Flüchtlinge haben den Krieg hautnah erlebt und berichten über Schüsse, die eine ganze Nacht andauerten. Für die Schüler ist eine solche Flucht undenkbar.


Jennifer Frerichs und Jessica Tönjes haben das schwere Schicksal im 2. Weltkrieg der Familie Tönjes aufgezeichnet. Die Großmutter von Jessica berichtet über das schwere Leben während des Krieges. Sie musste zu Hause mithelfen und wurde noch beschimpft, weil sie während eines Angriffes des Tieffliegers die Milch verschüttet hatte. Der Mann von Elise Tönjes wurde wenige Wochen nach deren Heirat eingezogen und 1944 im Krieg erschossen. Die Todesnachricht war ein Schicksalsschlag für die Frau und wurde geschrieben von seinem Vorgesetzten. Auch dieser Brief wurde von den Schülerinnen ausgestellt. Bei der Befragung gab es Situationen, in denen die Großmutter nur schwer die richtigen Worte finden konnte. Zu emotional sind die Erlebnisse teilweise heute noch.


Geschichte begegnet Schülern in Gesprächssituationen unmittelbarer als im normalen, faktenorientierten Geschichtsunterricht. Die direkte Begegnung mit jemanden der diese Zeit selbst erlebt hat und nun über diese Ereignisse berichtet, ist authentisch und ergreifend. Die Erlebnisse und Erfahrungen älterer Menschen scheinen Jugendliche zu fesseln und immer neugieriger zu machen.

Zeitzeugen als Quelle vermitteln Schülern eine subjektive Perspektive, die immer interpretationsbedürftig ist. Die meisten Zeitzeugen haben ihre Realität authentisch erlebt und verarbeitet ihre Bedeutung im Ganzen aber erst viel später erkannt. Dadurch bietet die Zeitzeugenbefragung die Möglich, dem Wahrnehmungsproblem jeder Quelle auf die Spur zu kommen. Auch jede Quelle erfasst nur einen bestimmten Ausschnitt der Realität. Durch das eigene Erschaffen von historischen Quellen durch die Zeitzeugenbefragung wird den Schülern zudem die grundsätzliche Multiperspektivität von Geschichte und ihrer Darstellung deutlich.

Zeitzeugeninterviews fördern die Kommunikation zwischen Schule und Öffentlichkeit. Sie beziehen das außerschulische Leben in den Geschichtsunterricht ein: Familie und Nachbarn sind jetzt Quellen. Das Gespräch zwischen Schülern und Zeitzeugen verringert die Distanz zwischen Jung und Alt. Es dokumentiert das Bedürfnis der Jüngeren, mit Zeitzeugen über die Vergangenheit zu sprechen und fördert das Bedürfnis Älterer, über ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

Michael Hemken

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